Abhängigkeit ist der natürliche Feind der Liebe

Wenn man über Abhängigkeit und Liebe nachdenkt, dann kann man schnell denken, dass eine gewisse wechselseitige Abhängigkeit ein positiver Aspekt von Liebe ist. Man hat jemanden, auf den man vertrauen kann und umgekehrt, diese andere Person vertraut mir. Was soll denn daran negativ sein?

Wie entstehen Abhängigkeiten in der Liebe? Denken wir zunächst an eine beliebige soziale Situation: auf dem Schulhof, in der Universität, auf einer Tanzveranstaltung. Da erblickt man einen Menschen und irgendetwas fasziniert, irgendetwas interessiert einen an der anderen Person. Das ist sicherlich im ersten Anlauf etwas Äußerliches. Aber es ist nicht nur die schöne Gestalt oder die geschmackvolle Kleidung. Es ist auch die Mimik, die Persönlichkeit, die man schon auf den ersten Blick wahrnimmt. In jedem Moment unseres Lebens, in jeder sozialen Situation senden wir Menschen jede Menge Informationen an unsere Umwelt, ganz einfach durch die Art, wie wir gehen, stehen, schauen, reden, lachen. Das ist die Mimik und die Gestik. All das ist für jeden anderen Menschen instinktiv erfassbar, geradezu spürbar. Wir wissen intuitiv, was das für eine Art Mensch ist, den wir da erblicken. Jeder Mensch strahlt beständig, ähnlich wie ein Handy, jede Menge Informationen über uns und unsere Befindlichkeit in die Welt. Diese Information ist recht wahrhaftig, weil wir sie auch nicht unbedingt kontrollieren, denn Mimik und Gestik werden vom Unterbewusstsein gesteuert und sind kaum bewusst steuerbar.

Zwei Menschen begegnen sich, kommen aufeinander zu und ein erster Austausch beginnt. In diesem Austausch entwickeln sie Hypothesen darüber, was das für ein Mensch das Gegenüber ist und wie sie interagieren können. Wenn wir uns erhoffen, dass der andere unsere Gefühle teilt, wenn wir hoffen, dass die Begegnung schön verläuft, dann entsteht eine Verliebtheit.

Dieser erste Moment des Austauschs, dieser erste Moment der Begegnung ist in der Regel ganz spontan und wir interagieren völlig frei. Wir haben noch ganz wenig Hypothesen über den anderen Menschen und wir wollen ihn einfach nur kennenlernen. Dazu gehört natürlich, dass wir uns auch ein wenig öffnen und unsere Gefühle zeigen. Ein gutes erstes Kennenlernen ist davon getragen, dass man sich austauscht. Viele Menschen sprechen bei einem ersten Date ihre Biografie, über ihr Leben, über ihre Lebenspläne , was sie begeistert, was sie im Alltag gerne machen, oder welche Hobbys sie pflegen. Dieser Austausch dient dazu herauszufinden, ob man in Werten und Lebenszielen und -einstellungen eine gewisse Ähnlichkeit hat. Je mehr Ähnlichkeiten das Paar für sich entdeckt, desto mehr Hoffnung auf interessante gemeinsame Aktivitäten gibt es. Die Chance auf geteilte Gefühle und geteilte Erfahrungen steigt. So entsteht eine gute Basis für eine Bindung.

In diesen ersten Wochen und Monaten des Kennenlernens probiert man sich miteinander aus und die Erfahrungen und die Situationen sind einfach so, wie sie sich eben gestalten. Man hat nicht unbedingt einen Plan, sondern man probiert sich aus. Entscheidend ist, dass dieser Austausch spontan ist und ein so freier Fluss der Emotionen zwischen den beiden Beteiligten entsteht. Ganz von selbst entsteht so eine Beziehung, weil man sich im Austausch und Miteinander “aufeinander bezieht.” Dies gilt umso mehr, wenn erotische Wünsche ausgelebt werden und das Paar immer mehr Zeit in die Gemeinsamkeit investiert.

Sexualität ist für uns Menschen sehr, sehr wichtig. Man gesteht es sich vielleicht nicht so gerne ein, aber es ist doch sehr zentral für beinahe alle unsere Aktivitäten. Sex ist der Moment, in dem wir uns mit dem Leben verbinden. Geteilte Sexualität erzeugt erfahrungsgemäß schnell eine starke Bindung.

In dem Maße, wie die Begegnung mit dem Anderen und eben auch der sexuelle Austausch wichtig wird, entsteht mit der Bindung eben auch eine gewisse, erste Abhängigkeit. Man möchte ja diese großartige Möglichkeit - mit diesem Menschen, den man jetzt so toll findet - Sex und Erotik zu teilen, das möchte man ja auf keinen Fall versemmeln. Also fängt man an, darüber nachzudenken, dass man den anderen möglichst nicht verärgert. Man fängt an, sich so zu verhalten, wie der andere das offenbar mag. Man lädt den anderen ein zu Aktivitäten, von denen man weiß, dass er begeistert ist. Man kocht das Essen, was dem anderen gefällt. Man schlägt Aktivitäten vor, die dem anderen gefallen und dann beginnt man schon, sich selbst ein bisschen zurückzunehmen.

Möglicherweise macht aber der Mensch, in den man sich verliebt hat, gerade etwas ganz, ganz Blödes. Etwa was man eigentlich ärgerlich findet. Ohne Beziehung würde man vielleicht frei heraus sagen, was man denkt. Je mehr man aber sich an den Anderen gebunden hat, desto eher denkt man noch einmal nach, bevor man den Anderen zu harsch kritisiert. Schon fängt man an, in der Beziehung ein bisschen politisch zu reagieren. Man ist nicht mehr so frei und unverkrampft wie am Anfang der Begegnung. Aber das bedeutet, dass man ein Stück weit seine aufrichtigen eigenen Gefühle verbirgt oder zensiert oder beschönigt und der freie Fluss der Gefühle geht verloren. Ein klein wenig von Lebendigkeit geht verloren. 

In dem Maße, wie der freie Fluss der Begegnung, der freie Fluss der Gefühle gebremst oder gehemmt wird, desto weniger lebendig wird man, desto weniger intensiv ist die emotionale Begegnung. Und so kommt die Liebe in der Realität an und die Flitterwochen sind vorbei. An dieser Stelle fängt die Arbeit an der Beziehung an. Beide Seiten müssen den Mut und die Energie aufbringen, Konsens zu schaffen, sich zu erklären und abzustimmen. Richtig spannend wird es, wenn es um Punkte geht, wo beide sich eben nicht einig sind, z.B. Familienplanung ja oder nein, zusammenziehen ja oder nein, sexuell exklusive Bindung ja oder nein usw.

In der Paartherapie begegnen einem oft Paare, die einen grundlegenden Unterschied in den Lebenshaltungen einfach unter den Teppich gekehrt haben, in der Hoffnung, man würde sich über die Jahre schon einigen. Sehr oft wird diese Hoffnung nach Jahren der Beziehung schmerzlich enttäuscht. Wenn dann durch eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Kinder und gemeinsames Geld auch äußerlich starke Abhängigkeiten geschaffen worden sind, dann kann die starke Bindung sich schnell in sehr emotional ausgetragene Konflikte wandeln. Betrachtet man den ganzen Bogen von der ersten Verliebtheit bis zum bitteren Ende, dann wird deutlich, welchen Anteil die wachsende Abhängigkeit beim Verlust der Liebe und der Lebendigkeit hat.
 

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