Ego-State-Therapie

Die Ego-State-Therapie (lateinisch ego ‚ich‘, englisch state ‚Zustand‘) ist eine psychotherapeutische Methode aus der Traumatherapie. Sie wurde von John und Helen Watkins entwickelt.

Ausgangspunkt für die Ego-State-Therapie ist die Annahme, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen Ich-Anteilen (‚Ego-States‘) besteht. Ein gesunder, nicht traumatisierter Mensch kennt und nutzt etwa 5–15 verschiedene Ich-Zustände. Sie sind klar bewusst und werden vom Ich gelenkt. Die meisten solcher Ich-Anteile entstehen in der Kindheit im Zuge der normalen Entwicklung. Gesunde Ich-Anteile sind z. B. der „kompetente Fachmann“, der vor den Kollegen einen Fachvortrag halten kann, der „gute Gastgeber“, der den Kaffee von rechts nachschenken kann, der „Coole Typ“ in der Disco oder der „begeisterte Radrennfahrer“. Man befindet sich zu jeder Zeit in einem bestimmten Ego-State und kann nach Bedarf ständig von einem ins andere wechseln.

Menschen, die seelisch schwer verletzt wurden, entwickeln zum Schutz ihrer Persönlichkeit Abwehrmechanismen gegen die mit der Verletzung verbundenen Schmerz- und Angstgefühle. Einige tun dies, indem sie traumatisierte Ich-Anteile „abspalten“, die dann nicht mehr der eigenen Kontrolle unterliegen. Dies geschieht zunächst fast immer unbewusst. Diese Ich-Anteile können wie „eigene Persönlichkeiten“ ein Eigenleben entfalten, mit „eigenem“ Willen, „eigenen“ Gedanken und Gefühlen.

Als Beispiel sei ein Mensch betrachtet, der von Kindheit an von einem Familienmitglied misshandelt wird, inzwischen als Erwachsener in einer eigenen Wohnung lebt, und sich innerlich weiterhin zu Gewalthandlungen gedrängt fühlt. Sein gesunder, in der Therapie kontaktierbarer Ich-Anteil kann die neue Information lernen, den Impuls weitgehend zu unterdrücken.

Das wird den Menschen zwar stärken, dennoch sagt er zum Beispiel.: „Ich werde es versuchen, aber ich kann es nicht versprechen.“ Denn da gibt es auch noch den Ich-Anteil, der glaubt, gemäß der früheren Erfahrung den Menschen weiterhin (relativ) schützen zu müssen, indem er immer wieder gewalttätig reagiert. So kann es zu der fortdauernden Entscheidung kommen, dem inneren Impuls wieder nachzugeben. Die Ego-State-Therapie hilft den Betroffenen, diese abgespaltenen Ich-Anteile wieder besser in Richtung einer ganzheitlichen Persönlichkeit miteinander zu verbinden. Dabei berücksichtigt sie psychoanalytische Theorien, hypnoanalytische Techniken und neuere Erkenntnisse aus der Behandlung dissoziativer Störungen. Sie ist wirksam bei Posttraumatischen Belastungsstörungen, Borderline-, Angst- oder Sexualstörungen und& dissoziativen Identitätsstörungen.

Die Therapie erfolgt in vier Phasen:

  • In der ersten Phase findet eine Stabilisierung und eine Ich-Stärkung statt.
  • In der zweiten Phase werden die Ressourcen, also die „guten“ Ich-Anteile aktiviert. Der Betroffene soll dadurch gestärkt werden. Danach werden, gegebenenfalls durch Hypnose, auch die traumaassoziierten Anteile aktiviert.
  • Die dritte Phase stellt die größte Herausforderung dar. Hier ist es das Ziel, die traumatisierten Ego-States zu korrigieren bzw. aufzulösen.
  • In einer vierten Phase wird sowohl mit den traumaassoziierten als auch mit den ressourcevollen Anteilen gearbeitet; es wird versucht, ein wechselseitiges Anerkennen und eine Kommunikation und Empathie zwischen ihnen herzustellen. Auch „böse“ Anteile sind Teil vom eigenen Selbst und sollten als wertvolle Ressourcen anerkannt werden, die entdeckt und neu genutzt werden können.

Oberstes Ziel der Ego-State-Therapie ist, den Stress im inneren System zu reduzieren und die Energie wieder auf die Gestaltung eines erfüllten Lebens auszurichten. Der Betroffene soll lernen, die unterschiedlichen
Persönlichkeitsanteile und die damit verbundenen Bedürfnisse und Standpunkte besser miteinander abzustimmen, sich für die wesentlichen zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Je nach Schweregrad der Störung können die abgespaltenen Ich-Anteile vollständig in das „innere Team“ integriert werden oder sie werden, nun gelenkt vom eigenen Selbst, symbolisch weiterhin als „eigene Persönlichkeiten“ betrachtet, aber jetzt konstruktiv-integrativ eingesetzt.